Digital Detox: Sinn und Unsinn

Digital Detox ist dieser Tage das Buzzword schlechthin. Ironischerweise vor allem auf Blogs und in den sozialen Netzwerken. Blogger berichten von der Front, wie sie ein ganzes Wochenende lang Digital Detox ausgehalten haben, und werden dafür gefeiert wie Helden.
Das findest du hier:
Was ist Digital Detox überhaupt?
Detox, das klingt ja nach Stars und Sternchen, die sich mehr oder minder abgefuckt zum Drogenentzug in irgendeine Klinik begeben, nach tragischem Glamour. Wahlweise auch nach hippen Instagram-Accounts, die mit schicken Fotos von geschreddertem Selleriegesöff eine von Wissenschaftlern als Humbug bezeichnete „Entschlackungskur“ zum Lifestyle verklären.
Und Digital, das nehmen wir jetzt mal nicht ganz so ernst. Ignorieren wir mal, dass schließlich auch der Kurzzeitmesser in der Küche, das Thermometer im Wohnzimmer, die Spülmaschine, die Steuerung der Klimaanlage etc. pp. alle digital sind… auf die will natürlich keiner verzichten. Was eigentlich gemeint ist: Smartphones, Computer und überhaupt das Internet. Die Technologie, die uns mit der Welt vernetzt.
Digital Detox beschreibt den Verzicht auf das dauernde Googeln, Instagrammen, facebooken, Whatsappen und wie sie nicht alle heißen. Kein Internet = kein Stress, das ist das Versprechen.
Gemeint ist letztlich also ein schnödes „einfach mal offline sein“.
Fun fact: es gibt sogar Apps dafür. Ernsthaft.

Digital Detox passt zum Zeitgeist
Achtsamkeit und die Verklärung des guten, einfachen Lebens von früher sind ja gerade schwer angesagt.
Es gibt dazu haufenweise Bücher, man kann entsprechende Urlaube (beispielsweise im Kloster) oder sogar spezielle Digital Detox-Camps buchen und nicht zuletzt haben auch Zeitschriften wie die Flow oder die unzähligen „Auf dem Land ist die Welt noch in Ordnung“-Magazine das Umsatzpotential hinter diesem Trend erkannt.
Ehrlich, ich lese diese Zeitschriften auch ganz gerne. Wie ich überhaupt wesentlich lieber echte Bücher aus Papier lese als eBooks – auch wenn es für mich als Pendlerin sicherlich deutlich praktischer wäre, einfach einen Kindle in die Handtasche zu stecken als einen gebundenen 600-Seiten-Wälzer. Nein, danke, ich mag nicht den ganzen Tag nur auf Bildschirme starren.

Achtsamkeit ist ein verdammt guter Ansatz, keine Frage. Aber das Internet mit all seinen Begleiterscheinungen als etwas Toxisches deklarieren? Etwas, von dem man in einer Entziehungskur entgiften sollte, um gesund zu werden? Quasi auf einer Stufe mit Heroin und Koks – ungesund, sollte man nicht machen, klar, aber halt leider geil? Hmm. Und das vermeintlich beschauliche Landleben als das Nonplusultra? Hmmmmm.
Sehnsuchtsort „auf dem Land“
Ich lebe auf dem Land. Genauer gesagt, bin ich in einem winzigen Dorf aufgewachsen, zum Studieren in die Großstadt gezogen und schließlich wieder zurückgekehrt aufs Land.
*Oma-Modus an*
Früher als ich noch jung war während meiner Schulzeit bedeutete Landleben: da wohnen, wo nix los ist. Wo abends um neun die Bürgersteige hochgeklappt werden (sofern es überhaupt welche gibt). Wo man für ausgefallene Lebensmittel oder halbwegs passable Kleidung eine halbe Tagesreise in die nächstgrößere Stadt unternehmen muss. Wo vom Puls der Welt herzlich wenig zu spüren ist.
Mit einem Wort: es war saulangweilig.
Klar, uns ist schon etwas eingefallen. Wir haben als Kinder ganz klischeehaft fast immer draußen gespielt – sind im Wald auf Bäume geklettert, mit Ponys über die Wiesen geritten und im Winter rodeln gegangen. Aber gefühlt war niemand stolz darauf, auf dem Land zu wohnen. Spätestens im Teenageralter haben wir nämlich neidisch auf das „richtige“ Leben in der Stadt geschielt und so gut es ging versucht, es nachzumachen.
Tja – wenn dann im Hobbykeller Opas Werkbank zur Seite gerückt wurde und drei futzelige Discokugeln aufgehangen wurden, um einen auf Großraumdisco zu machen, dann hatte das rückblickend betrachtet einen gewissen naiven Charme. 😉 Damals fühlte es sich eher frustrierend an.
Nach rund zehn Jahren in verschiedenen Städten bin ich jetzt wieder aufs Land gezogen, freiwillig. Und ich bin verdammt glücklich hier. Aber: so ganz ohne Internet würde ich auch nicht hinterm Mond wohnen wollen.

Ist wirklich alles besser ohne Internet?
Argh, wenn ich jetzt schon wieder von „früher“ erzähle, komme ich mir allmählich wirklich alt vor. 😀
Ich bin 1987 geboren und erstmal ohne Computer und Internet aufgewachsen. Auch wenn beides heutzutage wie selbstverständlich zu meinem Alltag mit dazugehört – ich weiß noch wie es war, als wir noch nicht einmal ein Wort für „offline“ hatten, weil es der Normalzustand war.
Allerdings frage ich mich, wie das eigentlich für die jüngere Generation ist – die so um 2000 herum geboren ist?
Erst in meiner Schulzeit ab der 5./6. Klasse fing das mit dem Internet und Computern im Alltag so allmählich an. Wie fortschrittlich man sich fühlte, als für unsere Klasse damals ein ausrangierter Computer angeschafft wurde! Der stand dann erstmal wichtigtuerisch in der Ecke und konnte de facto herzlich wenig, außer einzustauben und uns im Lehrplan etliche Wochen weit zurückzuwerfen. Die Englischstunden wurden nämlich für unzählige Versuche genutzt, auf dieser lahmarschigen Kiste irgendein sicher ganz tolles Vokabel-Lernprogramm ans Laufen zu bekommen (#fail).
Um Referate vorzubereiten, hatten wir damals alle Microsoft Encarta zu Hause auf dem Computer installiert. Na, wer kennt’s noch? 😀 Das Programm war quasi eine Art Wikipedia Light, und wer sich den entsprechenden Artikel vorher durchgelesen hatten, wusste schon genau, was im Referat erzählt werden würde.
Die Herausforderung lag darin, an Informationen heranzukommen. Da eröffnete das Internet plötzlich ungeahnte Möglichkeiten. Heute haben wir stattdessen viel zu viele Informationen und müssen vielmehr zusehen, wie wir sie irgendwie für uns sortiert und verarbeitet bekommen. Und ja, das bedeutet potentiell Stress.

Trotzdem möchte ich das Internet auf keinen Fall missen!
Es fängt an bei den kleinen Dingen wie der DB-App, die mir verrät, dass meine eigentliche Bahn Verspätung hat und ich daher von vornherein entspannt zu einem anderen Bahnsteig gehe, ohne frustriert zurück hetzen zu müssen.
Bei Harry Potter gibt es diese magische Karte des Rumtreibers, auf der man sieht, wo im Schulgebäude sich jemand aufhält. Wenn das schon Magie ist – na, was ist dann bitte dieses kleine Kästchen, in dem ich eine Freundin auf der anderen Seite der Weltkugel in Echtzeit sehen und hören und ganz normal mit ihr reden kann, so als säße sie gerade neben mir?
Es ist ein verfluchter Luxus, kostenlos und in nullkommanix zu allen möglichen Themen Informationen frei Haus zu bekommen! Vom Gitarrenkurs mit Noten plus Video über Updates zur politischen Lage in den USA und sämtlichen Sonetten von Shakespeare bis hin zu drölfzighundert Rezepten, einem Übersetzungstool in hundert Sprachen und der Möglichkeit, mir jeden noch so abgelegenen Ort auf Satellitenbildern oder sogar Street View anzusehen.
What. The. Fuck. Was für uns heute so dermaßen selbstverständlich ist, war für Tausende von Generationen vor uns schlicht undenkbar. Das muss man sich einfach mal bewusst machen!
FOMO – die Angst, etwas zu verpassen
Wie gesagt – so großartig das alles auch ist: dass diese Trilliarden von Informationen zu jedem nur erdenklichen Thema nur einen Mausklick weit entfernt sind und dass es da draußen einen Haufen von Plattformen gibt, auf denen wir aktiv sein können / dürfen / sollten, ist trotzdem nicht nur toll. Es ist potentiell belastend.
Aber warum? Uns zwingt doch niemand, davon Gebrauch zu machen… außer uns selbst?

In einem Artikel auf utopia.de wird dieses Phänomen ganz gut erklärt:
Es gibt einen Namen dafür, warum wir ständig am Bildschirm hängen: FOMO, ausgeschrieben „Fear Of Missing Out“ – die Angst, etwas zu verpassen. Sie lässt uns in jeder freien Sekunde auf das Handy starren. Wir sind so auf das Klingeln, Summen und Blinken unseres Smartphones konditioniert, dass wir auch zum Handy greifen, wenn gerade nichts passiert. Die Reizüberflutung mit ständiger Information, mit Texten, Bildern, Videos überfordert uns derart, dass wir dauernd gestresst sind – und gedanklich immer woanders.
Es liegt nicht am Internet. Das ist eine verdammt großartige Technologie, bei der ich mir sicher bin, dass sie das Leben von unzähligen Menschen bereits entschieden verbessert hat und noch unglaublich viel Potential birgt.
Es liegt an uns. Wir müssen lernen, angemessen mit diesen ganzen genialen Möglichkeiten umzugehen.
Sich für eine gewisse Weile mal auszuklinken, kann dabei sicherlich helfen. Einen Schritt zurücktreten, die Perspektive wechseln. Hier ist ein Wochenende ohne Smartphone vielleicht ein guter Einstieg.

Ob man das nun als wer weiß wie krasse Selbsterfahrung darstellen muss, sei einmal dahingestellt… und auch, ob man das paradoxerweise tunlichst gleich die Internetgemeinde wissen lassen muss. Allein auf Instagram über 30.000 Fotos zum Thema #digitaldetox. Ja, is‘ klar. 😀
Übrigens lebe ich seit rund einem Jahr mit einem kaputten Handyakku, dank dem meine Smartphone-Aktivitäten auf ein Minimum reduziert wurden. Nach unserem Umzug war ich im Januar eine Woche lang komplett offline (da ich Urlaub hatte und hier in unserem Funkloch nicht einmal mobile Daten empfangen kann) und insgesamt rund einen Monat lang ohne Internetanschluss daheim im Tal der Ahnungslosen.
Man überlebt das alles, sehr gut sogar. 🙂
Fazit: die Menge macht das Gift
Unterm Strich, denke ich, kommt es wie so oft im Leben auch hier einfach auf eine Balance an. 24/7 bei jeder Push-Nachricht aufzuspringen halte ich ebenso für Mumpitz wie Social Media & Konsorten komplett zu verteufeln.
Diese Erkenntnis hatte der gute Paracelsus übrigens bereits vor fast 500 Jahren:
Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, daß ein Ding kein Gift sei.
Paracelsus
In diesem Sinne… geh ich jetzt mal ganz analog raus in den Garten, um den Phlox einzupflanzen, den mir meine Mom gestern geschenkt hat. Die optimalen Standortbedingungen habe ich vorher gegoogelt. 😉
"#DigitalDetox – Sinn oder Unsinn? Klick um zu TweetenWie siehst du das? Verbringst du viel Zeit online und hast du das Gefühl, bis zu einem gewissen Grad davon abhängig zu sein?
Hast du dich vielleicht schon einmal an einem Digital Detox versucht? Was hältst du davon?